DEMENZ heißt: OHNE GEIST – Das stimmt aber nicht! Nicht im Fall meiner Mutter. Die Demenz stellt eher eine Art Gegenalgorithmus dar, der jeder Rationalität in dieser Welt überlegen ist.
Es ist das Dazwischen. Das UND. Die Lücke – die verbinden will und zu verbinden sucht.
Die persönlichen Erfahrungen der Autorin und Regisseurin Bärbel Strehlau, deren eigene Mutter seit Jahren an Demenz erkrankt ist, mischen sich mit dem Fiktionalen der Dichtung zu einem intimen Bekenntnis an das Leben. Vor dem Hintergrund einer tiefen Familienkrise, taucht das Stück in die Welt der Mutter ein – einem Leben im Rückwärtsgang. Das Sofa wird zur rettenden Insel. Zu ihrem Universum. Zu ihrem Gehirn. Eingebettet liegt sie in ihm. Hier ist sie in Sicherheit. Außerhalb dessen wird die Wohnung weit und unübersichtlich. Wo schlafen wir denn heute? fragt sie immer, wenn der Abend kommt und es draußen dunkel wird.
Eine Ode an die VERLETZLICHKEIT.
Die Mutter dement. Der Vater krank. Trotz seiner Krebserkrankung ist er der einzige Ankerpunkt für seine Frau, deren Demenz unaufhaltsam fortschreitet. Sie sind ein Team, schon seit fünfundsechzig Jahren. Bisher konnten sie immer noch für sich alleine sorgen, irgendwie.
Doch mit einem Mal ist er da – der Moment, wo nichts mehr so ist wie kurz zuvor. Als der Vater plötzlich ins Krankenhaus muss, kommt das Familiengefüge ins Wanken.
Bei allen Entscheidungen geht es jetzt immer um früher, um heute, um Alles. Inmitten des Geschehens schwebt die Mutter. Alles beobachtend.
Noch versinkt sie nicht ganz im Vergessen. Sie bekommt alles ganz genau mit. Nur anders.
Die Mutti kommt mir vor wie eine Ausgesetzte auf einer Insel. Ich muss an die Iphigenie auf Tauris denken. Später wird sie sagen: „Ich bin das Opfer der Familie.“
Demenz heißt: ohne Geist. Aber das stimmt nicht. Die Demenz stellt vielmehr eine Art Gegenalgorithmus dar, der sich gegen jede vorgefertigte Realität richtet. Ein Vorgang, der jeder Rationalität trotzt. Die Demenz ist ein Zustand Dazwischen – zwischen Erinnerung und Vergessen.
Es ist das UND – die Lücke, die verbinden will und zu verbinden sucht.
Demenzerkrankungen sind eines der häufigsten Leiden im Alter und die siebthäufigste Todesursache weltweit. Laut der Global Burden of Disease-Studie könnte sich die Zahl der Demenzerkrankungen bis 2050 weltweit verdreifachen – von rund 57 Millionen im Jahr 2019 auf 153 Millionen im Jahr 2050.
Betrachtet man das steigende Risiko, an Demenz zu erkranken, wird wohl nahezu die gesamte Menschheit irgendwann in der Demenz versinken, wenn uns nicht vorher ein neuer Virusstamm dahinrafft oder wir den klimabedingten Hitzetod oder im nuklearen Inferno sterben. Vielleicht wäre von allen Szenarien die Demenz nicht die schlechteste Prognose.
Wir würden einfach vergessen, wie es geht – Kriege zu führen. Wir wären nicht mehr überinformiert, da sich keine Informationen mehr speichern lassen. Wir müssten uns nicht mehr an all die schrecklichen Dinge erinnern, die uns widerfahren sind. Es gäbe kein Gestern und kein Morgen. Es gäbe immer nur das Jetzt. Wir wären einfach nur noch fühlende Wesen.
Am liebsten ist es ihr, wenn ich mich neben sie auf das Sofa setze und Nichts mache. Das muss man können.
Nichts machen. Nur zusammen sein. Das ist alles.
Es ist nicht die Erinnerungsfähigkeit, sondern die Fähigkeit zu fühlen, die uns zu Menschen macht. Auch in der schwersten Form der Demenz bleibt diese Fähigkeit als einzige erhalten.
Vergessen, was gestern war. Vergessen, wo der Weg ist. Vergessen, wie die Dinge funktionieren. Eines Tages nicht mehr gehen können. Dann verstummen.
Wir haben die Fähigkeit verloren, andere Welten zu denken.
Text & Inszenierungen: Bärbel Strehlau
Bühne & Kostüm: Katharina Heistinger
Komposition & Sound: Holger Bey
Projektionen/Animationen: Germano Militi & Julia Libeseller
Regieassistenz/dramaturgische Mitarbeit: Niklas Knüpling
Kaufmännische Leitung: Simon Hajos
Produktionsassistenz: Helga Scheichelbauer
Ausstattungsassistenz: Michael Liszt
Maskenbau: Atif Hussein
Darsteller/innen: Else Hennig, Sabrina Strehl, Mareile Metzner, Michael Gangl
Premiere: Mi, 29. Nov. 2023
Weitere Termine: 1./2./5./6.*/7.**/12./13.**/14. Dez. | 20:00
* Einführungsgespräch um 19:00 | ** Publikumsgespräch im Anschluss
Publikumsgespräche im Anschluss an die Vorstellung
Do, 7. Dez. | Mit Hanna Fiedler (Vizepräsidentin IG pflegender Angehöriger) und Katharina Schoene, MM.A. (Klinische Seelsorgerin, Klinik Hietzing, arbeitet psychotherapeutisch in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Alter und Demenz)
Mi, 13. Dez. | Mit Dr. Vera Gallistl-Kassing, M.A., B.A. (Altersforscherin, Karl Landsteiner Universität Krems) und Birgit Meinhard-Schiebel (Präsidentin IG pflegender Angehöriger)
Dauer: 120 min. (inkl. 15 min. Pause)
Interview im Standard mit Magdalena Pötsch am 08.12.2023
derstandard.at/story/3000000198299/leben-mit-demenzkranker-mutter-sie-so-zu-sehen-sprengt-einem-das-herz
Artikel im Falter am 05.12.2023
falter.at/zeitung/20231205/die-kleine-mutti-und-das-vergessen
Helmut Schneider
wienlive.at/die-zeit-verkehrt-herum-tragen-ein-stueck-ueber-die-demenz-der-mutter-im-kosmostheater
Artikel im Kurier am 08.12.2023 / Plädoyer für die Bewahrung menschlicher Würde
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