Uraufführung: 24. September 2021 / Eine Produktion von [artfusion] in Kooperation mit dem WERK X-Petersplatz
„Den Traum hat es gegeben, und Träume, die einmal entstanden sind, hören nicht auf zu existieren. Realität kann aufhören zu existieren, kann durch eine neue Realität ausgelöscht werden. Aber Träume kann man nicht auslöschen, sie existieren in einer anderen Zeit. Das ist keine Zeit, die man in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilen kann.“ Heiner Müller, 1990
BORN IN THE GDR
Das Stück „Who the fuck is HELGA“ setzt in Deutschland an und fühlt zurück auf ein ganz normales Leben in der DDR. Die Regisseurin und Autorin Bärbel Strehlau – 1969 in Ostberlin nur unweit der Berliner Mauer geboren – schöpft aus ihren biographischen Erfahrungen und kreiert einen ungewohnt privaten Einblick in die Ereignisse des Um,- Auf,- und Zusammenbruchs des Sozialismus von 1989/90. Einer dreißig Jahre schlummernden Ahnung folgend beantragte Strehlau 2015 ihre STASI-AKTE. Sie wird zum Ausgangspunkt für die Idee des Stücks und ist gleichzeitig Dreh,- und Angelpunkt der autobiographischen Untersuchung. Auf der ersten Seite steht in blassen Buchstaben ein Name geschrieben: „HELGA“.
Die Akte liefert Hinweise, dass die Eltern mit der Staatssicherheit der DDR kooperierten, ob sie ihre Tochter möglicherweise bespitzelt haben, bleibt eine Vermutung. Die Entblätterung der einst geheimen Akte, deren Inhalt aus Datenschutzgründen nun größtenteils aus schwarzen Balken besteht, dient hier als Matrix, um die Widersprüchlichkeiten der Ereignisse eines unwiederbringlich verschwundenen Landes anhand ihrer eigenen Familiengeschichte zu rekonstruieren.
ERINNERN WIR UNS DOCH AN ETWAS DAS NOCH NIE DA WAR
Geblieben ist ein unlösbar gewordener Widerspruch, der sich in die Biographie von Bärbel Strehlau bis heute eingeschrieben hat. Ein Widerspruch zwischen dem, was an Veränderung 1989 zum Greifen möglich schien und dem, was die neue gesamtdeutsche Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Mit dem Verschwinden der DDR verschwand nicht nur eine Lebensrealität, sondern auch der Möglichkeitsraum auf Veränderung hin zu einer gerechten Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der wirren Wendezeit von 1989 de- und rekonstruiert das Stück die Erinnerungen neu. Es zeichnet eine Spur der Aufarbeitung zwischen dem geplatzten Traum von einer gerechten Gesellschaft und der real existierenden kapitalistischen globalen Welt von heute.
„Mit dem Mauerfall löste sich mit einem Schlag eine Wirklichkeit auf und zerfiel in lauter einzelne Teilchen. Eine verschachtelte Welt aus Gewohnheiten, Werten und Gesetzen verschwand in einem klaffenden schwarzen Loch, wie vom Boden verschluckt. Eine Realität wurde durch eine andere ersetzt. Die Möglichkeit auf Veränderung wurde gegen Konsumgüter aller Art eingetauscht.“ so reflektiert Bärbel Strehlau ihr persönliches Erleben.
EINE REISE DURCH DAS INNERE UNIVERSUM EINER STASI-AKTE
DIE AKTE öffnet ein poetisches Betrachtungsfeld. Hier wird Geschichte zu einem Verhandlungsraum aus Zeit. Zeit als ein rätselhaftes Element, in dem alle Zeiten wohnen. Denn die Zeit, wie Albert Einstein sagte: „Sie bewegt sich nicht nur in eine Richtung – die Zukunft existiert gleichzeitig mit der Vergangenheit“.
Mit dem Öffnen der Akte öffnen sich längst vergessene Erinnerungsräume und bringen das Erinnerte in neue Zusammenhänge. Wie einem Puzzle gleich, setzen sich die Bruchstücke an Informationen, die aus der Akte bleiben, fragmentarisch zusammen und formen einen neuen Blick auf die Vergangenheit. Die Lücken, die durch die überwiegend geschwärzten und anonymisierten Stellen in der Akte gegeben sind, werden, sowohl für den Textkörper als auch für die musikalischen Sound-Kompositionen des Stücks, zur konzeptionellen Inspiration. Die Akte selbst wird zur Formvorlage für die Inszenierung. Hier kreuzt sich dokumentarisches Material mit autobiographischen Aufzeichnungen. Das Fiktionale und Fabelhafte schreibt sich als Dichtung in die Leerstellen.
Drei Schauspieler*innen, die das personifizierte ICH der Autorin darstellen, finden sich in den Figuren eines gegenwärtigen ICH-BIN, eines vergangenen ICH-WAR und eines zukünftigen ICH-WERDE-SEIN. Das ICH-BIN hält die ungeöffnete Akte in ihren Händen, sichtlich überfordert, denkt sie sich: „Helga? Ich wusste, dass sie eines Tages kommen wird. Ich hatte sie schließlich selbst beantragt. Die Akte. Die Vergangenheit.“
Nach zweifelndem Abwägen über Sinn und Unsinn im Vergangenen rumzuwühlen, bieten die zwei anderen ICHs ihre Hilfe an. Gemeinsam können sie sich dem Inhalt der Akte nicht mehr entziehen. Anfänglich der Frage folgend, wer denn nun Helga gewesen sein könnte, durchstreifen sie fast detektivisch den lückenhaften Inhalt der Akte. Bis sie sich ganz in ihr verlieren.
DER AUFTRAG
Mit diesem Projekt stellt sich Strehlau selbst einen „Auftrag“, das zu erzählen, was während der „Wende“ und danach mit ihrem Land wirklich passiert ist. Sie stellt die seit dreißig Jahren propagierten Narrative der „glorreichen“ Wiedervereinigung von Ost und West auf deutschem Boden grundsätzlich in Frage. Was im Osten Deutschlands passierte und noch immer geschieht, steht hier exemplarisch und ermöglicht Rückschlüsse auf Entwicklungen in den neoliberalen Gesellschaften weltweit. Das Stück handelt von einem großen gesellschaftlichen Aufbruch und von der Sehnsucht, den Sozialismus der DDR zu reformieren und zu demokratisieren bis hin zur ohnmächtigen Kenntnisnahme, dass durch die deutsche Wiedervereinigung nichts von diesem Land und seiner Vision übriggeblieben ist.
Bärbel Strehlau: „Ja, mit der Wiedervereinigung zerplatzte mein Traum von der Utopie auf eine gerechtere Gesellschaft. Ich bin an jenem Abend als die Mauer fiel schlafen gegangen und manchmal denke ich, ich schlafe noch immer und wache erst auf, wenn der Traum Wirklichkeit geworden ist.“
In Anbetracht des gegenwärtigen Rufes nach einem alternativen Gesellschaftsmodell ist es an der Zeit, mit einem anderen Blick auf die Geschichte zu schauen. Wie vom Ende her sich alles aufklärt, dass Geschichte nichts Abgeschlossenes ist, sondern immer und immer wieder neu interpretiert werden muss.
DarstellerInnen: Sabrina Strehl, Dolores Winkler, Nina Fog, Christian Himmelbauer
Text und Inszenierung: Bärbel Strehlau
Komposition und Sound: Holger Bey
Bühne, Kostüm und Maskenbau: Heike Mirbach
Dramaturgische Beratung: Iris Harter
Produktionsleitung: Simon Hajos
Regieassistenz: Juri Zanger
Lichtdesign: Martin Siemann
Ausstattungsassistenz: Michael Liszt
Sujet & Gestaltung: Max Huber (Foto: privat)
Teaser: Julia Libiseller / Germano Militis
Trailer & Gesamtmitschnitt: Carina Plachy
Technik: Anna Bauer, Ines Wessely
„UND MORGEN RETTEN WIR DIE WELT“
Expert*innentalk mit Maja Wiens, Jörg Richert, Bärbel Strehlau; Moderation: Robert Misik
Das Panel ergänzt und vertieft den gesellschaftlichen Diskurs dieses autofiktionalen, politischen und interdisziplinären Musik- und Theaterstücks.
Es vereint die historischen mit den krisengeschüttelten gesellschaftspolitischen Themen und diskutiert Perspektiven, in Bezug auf einen nötigen Reformprozess der Demokratie und der Transformation von Gesellschaften am Beispiel der Umbruchs- und doppelten Systemerfahrung der DDR. Ausgehend von einem Land, das es nicht mehr gibt, wird hier ein Möglichkeitsraum eröffnet, der im Kreativen neue Wege aufzeigt und ein Neudenken initiiert, Lösungen zu finden: Wie wir in Zukunft ein gerechteres Zusammenleben ermöglichen?! Wie kann Resilienz geschaffen werden, nicht nur bei der Bewältigung der Pandemie, sondern Resilienz gegen Politikverdrossenheit, gegen Vergessen und Verdrängen? Die Produktion soll Aufforderung sein, zu verstehen, wie sehr das Politische ins Private wirkt und wie sehr das Private politisch ist.
Heute wie damals geht es um die simplen Fragen nach Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung auf der einen Seite und Solidarität, Mitverantwortung und Gemeinwohl auf der anderen. In welcher Zukunft wollen wir miteinander leben? Wann wollen wir Maßnahmen setzen, um das bestehende System grundlegend zu verändern?
Diskussionsteilnehmer*innen:
Maja Wiens (Autorin, Aktivistin und DDR-Zeitzeugin)
Jörg Richert (DDR-Zeitzeuge, Geschäftsführer von „Karuna“ Sozialgenossenschaft Berlin, Zukunftsvisionär)
Bärbel Strehlau (Zeitzeugin, Regisseurin und Autorin von „Who the fuck is HELGA?“)
Heinz Wagner, KiJuKU
Zwei dichte Theaterstunden lassen jüngere Geschichte lebendig werden
„Who the fuck is Helga?“ im Werk X-Petersplatz geht von einer Stasi-Akte aus und vermittelt Einblicke in eine fast unbekannte Welt.
Als sie vor drei Jahren aus dem Postkasten ihrer Wiener Wohnung das Kuvert mit der von ihr angeforderten Akte der Staatssicherheit der untergegangenen DDR zog und darauf das Deckblatt „Helga 768/88“ fand, hatte sie bereits den Titel für ein künftiges Theaterprojekt im Kopf: „Who the fuck is Helga?“ Wer zum Teufel diese/r inoffizielle Mitarbeiter/in der Staatssicherheit (Stasi) war, ist ihr bis heute ein Rätsel.
Jedenfalls sind die Einträge über sie – ab der Zeit als die Facharbeiterin (Außenhandles-Wirtschaftskauffrau) eine Ballettstudium – die Basis, das Gerüst, der rote Faden des rund zweistündigen Stücks mit dem besagten Namen. Obwohl die dichte Inszenierung sozusagen eine knapp 30 Jahre zurückliegende Epoche und ein untergegangenes Land leibhaftig lebendig werden lassen, ist es kein Erzählstück. Das Stück mit Rollenwechsel, Masken, Ab- und Auftauchen in der Mitte der Bühne (Heike Mirbach, die auch die Masken formte) oder hoch oben in einem Wachturm auf der Mauer macht diese höchstpersönliche Geschichte, in der sich Weltgeschichte verdichtet, fast sinnlich erlebbar.
Das setzt das vierköpfige Schauspieler:innen-Ensemble trotz äußerst kurzer Probenphase – 4 ½ Wochen – mehr als beeindruckend um. Die Hauptfigur – der Autorin und Regisseurin selbst – wird „zerlegt“ in eine Drei-Heit, Vergangenheit (Dolores Winkler), Gegenwart (Sabrina Strehl) und Zukunft (Nina Fog). Christian Himmelbauer, nur als Grenzschützer ohne Maske, verwandelt sich mit solchen u.a. in den Vater, vor allem aber immer wieder in einen Adler – als Symbol einerseits der Freiheit, weil er auch über die Mauer fliegen kann, aber auch der Macht. Mit Maske wird Winkler u.a. die Mutter der Autorin.
Die Mauer mit Wachturm im Hintergrund wird auch zum kleinen Bungalow-Glück am Seegrundstück, das die Familie pachten durfte. Das immer wieder vom Sumpf des überschwappenden Sees trockengelegt werden muss – Der Sumpf sind übrigens geschredderte Papierstreifen aus Papp-Säcken – solchen in denen auch tatsächlich die Stasi-Akten aufbewahrt wurden.
Die Konfrontation der Eltern damit, dass sie Bärbels Kinderzimmer einem Staatssicherheits-Führungsoffizier und einer stets unbekannten Frau als „konspirative Wohnung“ überlassen haben, hatte die Autorin – und das ist im Stück mitzuerleben – immer wieder aufgeschoben.
Das Stück – immer wieder stark untermalt durch Musik von Holger Bey – bleibt aber nicht auf den Stasi-einträgen hängen, gerade die Szenen am Seegrundstück vermitteln einen Hauch des Lebensgefühls in der DDR. Und immer wieder wird angesprochen, dass sich weite Teile der Protestbewegung gegen das undemokratische Herrschaftssystem der verknöcherten Parteibonzen, nicht gegen, sondern für mehr Sozialismus aussprachen. Der Anschluss an die BRD bedeutete – so ist immer wieder hier zu sehen und mitzuerleben – Enttäuschung und Entfremdung. Und dennoch enthält „Who the fuck is Helga?“ keinen Funken Ostalgie, sondern wirft nochmals die ja auch heute aktuelle Frage auf, wie könnte/kann die Welt zum Besseren verändert werden.
In „Who the fuck is Helga?“ spannt die seinerzeit ausgespitzelte Künstlerin Bärbel Strehlau den Bogen von ihrer Stasi-Akte zum Lebensgefühl in einem untergegangenen Staat und der enttäuschten Hoffnung auf Veränderung in Richtung sozialer Demokratie – was einer Umfrage zufolge damals fast ¾ der Bevölkerung im letzten Jahr der DDR wollten (71 %).