Der Himmel scheint abgeschafft
von Bärbel Strehlau

Rede an das Parlament

Anouka: Unsere Welt ist heute eine andere, als sie vor dreißig Jahren war. Mir fällt es derzeit schwer irgendwelche glorreichen Lobeshymnen auf unser Europäisches Unionsprojekt hier in den Saal zu tönen. Es wären hohle Phrasen. Worthülsen, die im Angesicht eines in sich zusammenfallenden Gebäudes, mir nicht angemessen scheinen. Das heißt nicht, dass ich die Union mit all meiner Kraft, als das einzig mögliche Friedensprojekt für unseren Kontinent und für die Weltgemeinschaft verteidigen würde. Ich glaube daran, mit allem wie ich hier stehe. Die Vision der Gründerväter und Mütter schmort in den Schubladen vor sich hin und wartet auf seine Erfüllung. Ich frage mich wer hat die je gelesen? Tag für Tag sitzen wir hier  in den Ausschüssen, Gremien und Kommissionen zusammen. Wer von uns kennt diese Vision überhaupt? Was ist aus der Idee eines gemeinsamen Europas geworden? Der Glaube geht verloren. Das unaussprechliche wird gesagt. Die einzige menschliche Idee, der Unantastbarkeit der Menschenrechte ertrinkt seit Jahren schon im Mittelmeer. Ist das die gemeinsame Idee? Ich glaube ganz sicher nicht.

Die Hoffnung ist weg. Die Perspektive ist weg. Der Trost ist weg. Die Flüchtlingskrise hat die europäischen Gesellschaften verändert. Da draußen stehen sich die Menschen, die Beine in den Bauch und erfrieren vor Kälte, die von unseren demokratischen Palästen ausgeht. Die europäische Union ist nur ein Anhängsel der Ökonomie. Im Grunde leben wir in einem Wirtschaftskrieg, der von Banken und Konzernen gegen die Gesellschaft geführt wird. Die Bürger verachten die demokratischen Eliten, wie wir sie hier verkörpern. Wir Politiker machen Politik nur noch für uns selber und sind zu nützlichen  Erfüllungsgehilfen eines Wirtschaftslobbyismus mutiert. Wir denken nur an unser eigenes Fortkommen, unseren eigenen Aufstieg in die nächsten Posten, die wir uns ganz legal zu schachern. Das muss aufhören! Aber wie kommen, wir da wieder hinaus? Wenn wir das überhaupt wollen?

Der Himmel scheint abgeschafft, wenn wir über unseren eigenen Tellerrand mal hinaus schauen. Wer liefert antworten? Seien wir doch ehrlich zu uns selber. Jeder für sich. Wer von uns hat denn noch Kontakt zu den Menschen da draußen? Wer von uns hat denn noch Kontakt zu sich selbst? Wer hat Kontakt zu seinen innersten Anliegen, für das er hier her gewählt ist? Wer hat Kontakt zu seinem Gewissen, all jenen Gegenüber, für die wir uns hier die Ärsche im Parlament breit sitzen?

Wir haben den Schlüssel zum Menschsein verloren. Hören wir also auf uns unermüdlich europäische Erfolgsgeschichten zu erzählen, die uns angesichts der neoliberalen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre, im Hals stecken bleiben müssten. Denn die ungebremste Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus, seit dem Fall der Berliner Mauer 1989, hat einen Wandel hervorgebracht. Er ermöglichte illiberalen Kräften einen Aufstieg, der nun unsere Demokratie gefährdet. Schauen wir der Wahrheit ins Gesicht: Die Krise der EU ist selbst gemacht. Wachen wir endlich auf und stellen uns dieser Tatsache. Nutzen wir diese gewaltige Schieflage, in der sich die Demokratie befindet, als eine Chance zur Erneuerung und Veränderung. Jene demokratiegefährdenden Kräfte, zeigen uns, dass wir jetzt ins handeln kommen müssen. Sie zeigen uns die Schwachstellen, des in sich krankenden Systems ganz genau auf. Wie ein Spiegel, in dem wir unsere eigene Unzulänglichkeit vorgehalten bekommen. Es nützt kein wegschauen und kein Schönreden mehr. Das haben wir lang genug getan. Und das ist im Grunde auch ziemlich kindisch. Die EU ist alt genug, um sich einer radikalen Veränderung zu stellen. Solange wir den undemokratischen Liberalismus weiterhin banalisieren, wird der Rechtspopulismus diese demokratische Dynamik für sich zu nutzen wissen, um Demokratie zu begrenzen und ein autoritäres Gesellschaftsmodell durchzusetzen. Eine menschliche und soziale Union kann uns nur gelingen, wenn wir die zahlreichen Bewegungen, die diese Krise erkannt haben, miteinander verketten. Wenn wir mit jenen gemeinsam einen kollektiven Willen schaffen, der die Demokratie fruchtbar macht. Der die Demokratie zu vertiefen sucht und die politische Gleichheit verstärkt.

Der Mensch selbst ist eine Ressource, wenn es schon keine mehr im Erdboden zu finden gibt. Üben wir uns also in Menschlichkeit und unterwerfen uns nicht den individuellen Wiederaufbereitungsanlagen von Partei,- Wirtschaftspolitik – und Europarlamentsprogrammen, die zum Himmel stinken. Das muss reichen und es reicht schon lange. Alles ist aus den Fugen. Das wissen wir, aber spüren tun wir nichts. Wir spüren schon lange nichts mehr. Machen wir uns verletzlich. Üben wir uns in Empathie. Machen wir uns angreifbar. Erzeugen wir Gefühle. Hörten wir nur genauer hin, dann würden wir merken, was die Stunde geschlagen hat. Die Stunde all derer, denen klar wird, dass heute zwar dauernd von Individualisierung die Rede ist, aber kaum jemand wirklich weiß wer er ist. Von Zeit zu Zeit ist es gut, sich schwer zu tun und sich ernst zu nehmen. Dass es bei der Selbstwerdung nicht nur auf die Herstellung der Marktfähigkeit ankommt, sondern auch auf die Ausbildung des Gefühls und eine Verantwortung zu übernehmen, sich und der Welt gegenüber. Den Mut zu finden und den nicht ungefährlichen, den manchmal beängstigenden aber notwendigen Schritt zu wagen auf dem Weg in ein ICHHAFTES Neuland.

Es ist an der Zeit die Dinge Neu zu denken.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.